Im Dreiländereck zwischen BRD, DDR und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) lüftet sich der Eiserne Vorhang zuerst. Die Züge aus der Prager Botschaft kommen hier an, kurz darauf folgen endlose Trabbikolonnen. Über 60.000 DDR-Bürger*innen überwinden hier die Grenze schon vor dem 9. November 1989. Am Grenzübergang bei Schirnding betreten sie zum ersten Mal das Gebiet der Bundesrepublik.
Die Region ist auf beiden Seiten der ehemaligen Grenze geprägt von Tradition und Handwerk. Das bayrische Selb gilt als Weltstadt des Porzellans. Das sächsische Klingenthal ist weltberühmt für seinen Instrumentenbau. Für beide Orte werden die 1990er zu Schicksalsjahren: Aus dem „vogtländischen Musikwinkel“ wird neudeutsch „Musicon Valley“, aber der Instrumentenbau in Klingenthal verliert Anfang der 1990er Jahre schlagartig an Bedeutung. In Selb und Umgebung werden aus den legendären Porzellanmarken Zweigstellen eines internationalen Konsortiums – vor Ort wird kaum noch etwas produziert. Ost wie West erleben jedoch auch Aufbruch. Ein Pfarrer aus Klingenthal schiebt die Proteste gegen die SED an und kehrt der aufkommenden Parteien-Politik bald wieder den Rücken. Ein Galerist in Selb knüpft neue Kontakte und zeigt Kunst „von drüben“. Und an die Wintersporterfolge aus der DDR kann auch in der neuen BRD angeknüpft werden.
1989 – Die SED plant die Feier zum 40. Jahrestag der DDR-Staatsgründung , doch die Menschen im Land bewegen ganz andere Ereignisse. Auch im kleinen Klingenthal sammelt sich mehr und mehr Protest. Pfarrer Frank Meinel verliest von seiner Kanzel einen Protestbrief vom Landesbischof, denn der Betrug bei den Kommunalwahlen ist mittlerweile beweisbar. Der Eiserne Vorhang beginnt langsam zu bröckeln, denn in Ungarn wird beim paneuropäischen Frühstück demonstriert und in Prag füllt sich die Botschaft mit tausenden Ausreisewilligen.
Wie war die Rolle der Kirche vor Ort?
Frank Meinel, Pfarrer, Schneeberg
Wie hat sich der Protest in der Region formiert?
Frank Meinel, Pfarrer, Schneeberg
Die Proteste sind nicht mehr aufzuhalten. Überall auf dem Gebiet der DDR entstehen Runde Tische. Man setzt sich zusammen und arbeitet gemeinsam an einer neuen Zukunft. Der Idealismus ist groß. Doch es dauert nicht lange, bis die Parteienpolitik immer mehr Raum einnimmt. CDU, SPD, FDP – alle wichtigen bundesrepublikanischen Parteien wollen mitmischen und Parteibücher verteilen.
Was wurde aus der Bewegung?
Frank Meinel, Pfarrer, Schneeberg
Auch Pfarrer Frank Meinel aus Klingenthal muss eine Entscheidung treffen. Er hat die Proteste vor Ort an exponierter Stelle mit hohem Engagement wesentlich mit angeschoben. Viele wollen, dass er nach dem Mauerfall weitermacht und in die Politik geht. Doch den immer stärker werdenden Einfluss der Parteienpolitik auf die Oppositionsbewegung kann auch er nur schwer verdauen. Er entscheidet sich für sein Engagement als Pfarrer und zieht sich nach aufreibenden Jahren in Klingenthal zurück.
Welche Enttäuschungen gehörten auch zur Nachwendezeit?
Frank Meinel, Pfarrer, Schneeberg
Was bleibt in Erinnerung vom Herbst 89?
Frank Meinel, Pfarrer, Schneeberg
Musikwinkel, Tal der Musikinstrumente, Musicon Valley, das Vogtland ist eine Region, der viele Namen zugeschrieben werden. Die Tradition des Musikinstrumentenbaus hat sich hier entwickelt und ist mittlerweile zum immateriellen Weltkulturerbe ernannt wurden. Eine Geschichte, die 350 Jahre zurückgeht: Böhmische protestantische Glaubensflüchtlinge überquerten damals die Grenzen aus dem heute in Tschechien liegenden Kraslice und brachten den Geigenbau nach Sachsen. Das Ansehen für die Instrumente wächst und erlangt gute Absätze am Weltmarkt.
In der DDR wird das Handwerk größtenteils in Großserienproduktionen in Volkseigenen Betrieben (VEB) kollektiviert, kleine Betriebe werden unter Druck gesetzt. Viele DDR-Betriebe bestehen mittlerweile nicht mehr, was den kleinen Betrieben nun wieder zu mehr Bedeutung verhilft. Bis heute bringt die Region Musikinstrumente hervor, die in der ganzen Welt gespielt werden.
Was sind die Herausforderungen für den Musikinstrumentebau in der DDR?
Ekkard Seidl, Geigenbaumeister, Markneukirchen
Die Geigen aus dem Vogtland genießen ein herausragendes Renommee auf dem internationalen Markt. Die Produktion eines Instruments nimmt um die 200 Arbeitsstunden in Anspruch. Geigenbaumeister Ekkard Seidl verwendet bei vogtländischen Modellen wie vor 100 Jahren Holz aus der Region. Sämtliche Arbeitsschritte liegen bei ihm in Eigenproduktion, keine Teile werden aus Massenproduktionen hinzugekauft: Qualität hat ihren Preis.
Die Musikinstrumente aus dem Vogtland erfreuten sich schon seit über 100 Jahren großer Beliebtheit auf dem Weltmarkt. Den Vertrieb für das einträgliche Exportgeschäft übernimmt zu DDR-Zeiten die DEMUSA (Deutsche Musikinstrumenten- und Spielwaren Außenhandelsgesellschaft mbH). Von den Devisen, die durch den weltweiten Verkauf der Instrumente erlöst werden, kommt bei den Geigenbauern in Markneukirchen allerdings nichts an. Die Grafik illustriert, in wie viele Länder zu DDR-Zeiten exportiert wird.
Auch der direkte Verkauf an Privatkunden in der DDR wird von Genossenschschaften wie der MIGMA (Musikinstrumenten-Handwerker-Genossenschaft) weitgehend unterbunden. Viele Solisten der DDR und die großen Orchester in Berlin oder im Gewandhaus Leipzig kennen die Qualität aus dem Vogtland und wissen, wer dort produziert und besorgen sich ihre Instrumente jenseits der offiziellen Bestellwege. Offene Bestellungen aus der Zeit vor der Wende können auch nach dem Mauerfall noch bedient werden und helfen vielen Geigenbauern über die erste Zeit im neuen System.
Nach dem Mauerfall öffnet sich der Markt auch für die Geigenbauer aus dem Vogtland. Das eigentliche Handwerk bleibt von den welthistorischen Erschütterungen unberührt. Nun gilt es die neue Freiheit auch zu nutzen. Doch die Marktwirtschaft bringt auch neue Herausforderungen. Erfolgreich sind diejenigen, die in der Fremde bereit sind zu lernen. Auf den internationalen Ausstellungen und Messen trifft man jetzt direkt auf die Kundinnen und Kunden aus aller Welt und auch auf die Konkurrenz.
Wie kamen die ersten Verkäufe ins Ausland zustande?
Ekkard Seidl, Geigenbaumeister, Markneukirchen
Es ist nicht bei nur einer Bestellung von Elizabeth Wallfisch geblieben. Die berühmte australische Barockviolinistin ist so überzeugt von ihrem Instrument aus dem Vogtland, dass sie noch eine weitere Geige bestellt. Auch Schüler*innen, die bei ihr lernen, kommen mit einer Empfehlung in die Werkstatt von Ekkard Seidl nach Markneukirchen.
So macht man auf sich aufmerksam. Zum 650jährigen Stadtjubiläum von Markneukirchen lassen sich die Geigenbauer vor Ort etwas Besonderes einfallen. In über 1.300 Arbeitsstunden entsteht in Teamarbeit von 15 Geigenbauern die weltgrößte Geige. Und ja, man kann auch auf ihr spielen. Es gab bereits Aufführungen auf der Musikmesse in Frankfurt am Main, gemeinsam mit der Vogtland Philharmonie Greiz/Reichenbach und auch im ZDF war sie bereits zu hören.
Wie haben sich die Geigenbauer nach der Wende neu aufgestellt?
Ekkard Seidl, Geigenbaumeister, Markneukirchen
Das Familienunternehmen C. A. Seydel & Söhne wird 1847 gegründet und in der DDR durch Zusammenschluss anderer ehemaliger Firmen zum VEB Vermona verstaatlicht. Wie oft nach der Wende gelingt nicht allen der Schritt in die Privatwirtschaft. Die von der Treuhand abgewickelten Betriebe müssen die Sanierungsfähigkeit ihrer Produkte unter Marktbedingungen nachweisen. Nach über 170 Jahren gibt es die Mundharmonikamanufaktur immer noch in Klingenthal – eine Geschichte von Sparsamkeit und Durchhaltewillen.
Nach der Wende haben die Familienerben der Familie Seydel Rückgabeanspruch an der Firma für Mundharmonikas. Das bedeutet auch, dass die alten und neuen Eigentümerinnen und Eigentümer Anspruch auf entgangenen Gewinn haben, der über die Treuhand ausgezahlt wird. Aber plötzlich gelten Marktgesetze für einen Markt, der nicht mehr vorhanden ist. Denn die Kriterien an die Produktionskosten nach BRD-Vorbild und die Preisvorstellungen der Kundschaft sind nicht miteinander vereinbar.
Die Gebäude sind verschlissen, die Produktion am Boden und bald müssen Personalentscheidungen getroffen werden. Von den beiden Produktionslinien, Stimmplatten für Akkordeon und Mundharmonikas, bildet die Stimmplattenproduktion die finanzielle Basis. Auf einer Abnahmegarantie des Klingentaler Harmonikawerkes für die Stimmplatten als Basis wird die Produktion schließlich wieder aufgebaut.
Wie ging es für den Betrieb weiter nach der Wende?
Karl Pucholt
ehemals VEB Vermona und später C. A. Seydel & Söhne, Klingenthal
ehemals VEB Vermona und später C. A. Seydel & Söhne, Klingenthal
Welche Herausforderungen gab es in der Umwandlung des Betriebs?
Karl Pucholt
ehemals VEB Vermona und später C.A.Seydel und Söhne, Klingenthal
ehemals VEB Vermona und später C. A. Seydel & Söhne, Klingenthal
„Der kennt sich aus, der bringt die Firma durch“, heißt es über Karl Pucholt. Dann muss es schnell gehen. Der Erbe wird als Geschäftsführer abgesetzt und der langjährige Mitarbeiter Karl Pucholt wird der Neue. Die Firma arbeitet zeitweise für das westdeutsche Konkurrenzunternehmen Hohner AG und sichert so 75% des Umsatzes. Durch die Entschädigungszahlungen an die Erben bestehen nun Rücklagen, mit denen sparsam gewirtschaftet wird. Die Treuhand stuft Seydel & Söhne schließlich als „sanierungsfähig“ ein: die Firma ist vorerst gerettet.
Wie wurde der Betrieb nach der Wende wahrgenommen?
Karl Pucholt, ehem. VEB Vermona und später C. A. Seydel & Söhne, Klingenthal
ehemals VEB Vermona und später C. A. Seydel & Söhne, Klingenthal
ehemals VEB Vermona und später C. A. Seydel & Söhne, Klingenthal
Entwicklung der Produktion von Mundharmonikas im Werk in Klingenthal
Heute werden nur noch 40.000 Mundharmonikas produziert. Früher waren es 1,2 Millionen. Vor der Wende waren hier 250 Menschen beschäftigt, in den 1990er Jahren waren es noch 90, heute sind es 35.
Zurück zur Vollbeschäftigung und Vollproduktion?
Karl Pucholt
ehemals VEB Vermona und später C. A. Seydel & Söhne, Klingenthal
ehemals VEB Vermona und später C.A.Seydel und Söhne, Klingenthal
... und die neuen Nachbarn?
Karl Pucholt
ehemals VEB Vermona und später C. A. Seydel & Söhne, Klingenthal
Was passiert, nachdem der Außenminister Hans-Dietrich Genscher die Möglichkeit zur Ausreise von DDR-Bürgern in der Prager Botschaft verkündet? Die Tschechoslowakei öffnet schon am 4. November 1989 die Grenze zur BRD und ermöglicht so den Botschaftsflüchtlingen die Ausreise. Allein am Grenzübergang Schirnding in der Nähe des bayerischen Selb reisen zwischen dem 4. und 9. November ’89 zwischen 45.000 bis 65.000 DDR-Bürger*innen über die zwei möglichen Punkte ein: Zollamt Straße und Zollamt Bahnhof. Die Polizei regelt die Einreise. Das Rote Kreuz und die Bevölkerung empfängt die Flüchtlinge mit Verpflegung. Euphorie und Freude über die historische Grenzöffnung sind groß.
Wie hat man auf die Situation an der Grenze reagiert?
Wolfgang Brauner, ehem. Zollbeamter Schirnding
Gerhard Bock, ehem. Dienststellenleiter Polizei Selb
Die vielen Menschen zu koordinieren in ihrem ‚plötzlichen Auftauchen‘ und die Einreise zu steuern ist eine Mammutaufgabe. Die Beamten vor Ort erhalten die dienstliche Weisung, nicht jede Ordnungswidrigkeit zu ahnden. Teilweise stehen die Autos bis zu 10 km vor der Grenze auf Seiten der Tschechoslowakei im Stau. Die Verkehrssituation hinter der Grenze ist kaum besser.
Nur wenige Flüchtlinge bleiben in der Region. Eine junge Familie aus Ostberlin kommt mit einem der ersten Sonderzüge aus Prag in der Region Selb an. Der Vater – ein 26jähriger Metzgergeselle – wird direkt nach dem Grenzübertritt von einem bayerischen Metzger aus Hohenberg übernommen. Kaum im Westen, kann die Familie in der Region Fuß fassen.
Wie entstanden damals die ersten Kontakte an der Grenze?
Wolfgang Brauner
ehemaliger Zollbeamter Schirnding
Doch was liegt hinter dem Grenzübergang? Die Region Selb bleibt eine Durchreisestation für die meisten und die wenigsten fassen Fuß in der Gegend. Nach der Freude über den geglückten Grenzübertritt in Schirnding reisen die Menschen noch weiter gen Westen.
Die bayerischen Beamten geben den DDR-Flüchtlingen kopiertes Kartenmaterial auf den Weg, damit die wissen, wohin sie weiter müssen. Die DDR-Flüchtlinge fahren hinter Schirnding weiter zu ihrer ‚Westverwandschaft‘ oder in Flüchtlingsunterkünfte einer ungewissen Zukunft entgegen.
In der westdeutschen Grenzstadt Selb machen die Menschen erste Begegnungen mit den Ostdeutschen als Flüchtlingen. Der Ostdeutsche ist dort für viele ein Trabbifahrer, der für sein Begrüßungsgeld ansteht und anschließend weiter Richtung Westen fährt. Die tschechischen Nachbarn werden nach der Wende noch mal neu kennengelernt. Hans Joachim Goller, der während der 1980er und 1990er Jahre Kulturdezernent der Stadt Selb und gelernter Lehrer ist, bringt die drei neuen Nachbarn zwischen zwei Systemen über die Kultur zusammen.
Schon früh nach der Grenzöffnung wird die deutsch-tschechische Nachbarschaft gefördert. Eigeninitiative trifft hier auf Förderung. Die „Deutsch-tschechische Kulturbörse“ – von der Bundesregierung unterstützt und vom Kulturdezernent der Stadt selbst initiiert – findet bereits 1991 zum ersten Mal statt. Sechs Jahre in Folge stellen sich Kulturschaffende aus der BRD, der ehemaligen DDR und Tschechien auf der Messe in einer Drei-Felder-Turnhalle vor. Sie treffen hier auf deutsche und tschechische Kulturprogrammanbieter, Programmdirektoren und Veranstalter.
Was ändert sich für Kulturschaffende der ehemaligen DDR und Tschechien in der freien Marktwirtschaft?
Hans-Joachim Goller, ehem. Kulturdezernent und Galerist, Selb
Auch im Osten gründen sich nun auf Eigeninitiative Vereine und Galerien. Der 1990 wieder gegründete Kunstverein Plauen gibt früh den vormals staatlich engagierten Kunstschaffenden ein neues kuratorisches und selbstständiges Zuhause. Die Vereinstradition der selbstbestimmten Arbeit geht noch lange vor der DDR-Zeit zurück.
Wie kam der Kontakt zu Kulturschaffenden im Osten zustande?
Hans-Joachim Goller, ehem. Kulturdezernent und Galerist, Selb
Nachdem sich der Stadtrat der Stadt Selb Mitte der 1990er Jahre gegen die Weiterführung der Kulturbörsen entscheidet, gründet das Paar Heidi und Hans-Joachim Goller eine Galerie, in der es die Arbeit der Kulturbörse weiterführen will. Vor allem die tschechischen Künstlerinnen und Künstler wollen die bayerischen Kuratorinnen und Kuratoren präsentieren und die Kontakte weiterhin pflegen.
Wie kommen die Ausstellungen in eine bayerische Kleinstadt?
Hans-Joachim Goller, ehem. Kulturdezernent und Galerist, Selb
Die Region Selb ist wegen der spärlich angesiedelten Schwerindustrie zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein Ort des feineren Handwerks. Für die Produktion von Porzellan wird der Rohstoff Kaolin – das weiße Gold – benötigt. Aufgrund der hohen Kaolinvorkommen und des hohen Waldbestandes, der für die Kohlegewinnung und Brennstoffproduktion wichtig ist, haben die Regionen in Nordwestbayern und Ostthüringen beste natürliche Voraussetzungen für die Porzellanindustrie. Die Porzellanindustrie steht damals nicht in Konkurrenz zu anderen Industriestätten.
Mit der Niederlassung von Carolus Magnus Hutschenreuther wird die Region Selb zum Produktionsstandort. Die Erschließung ans Eisenbahnnetz sichert den notwendigen Transport für Waren und Rohstoffe. Die Produktion expandiert. In den 1920er Jahren gibt es mehr als 20 Fabriken vor Ort. Bis in die 1980er Jahre arbeitet ein Großteil aller Menschen in der Region von der Ausbildung bis zur Rente in einer Fabrik. Bis in die späten 1980er Jahre wird 85% des deutschen Porzellans in der Region hergestellt.
Schon vor der Wende änderte sich die Absatzgarantie für die Porzellanbranche. Mit der Globalisierung und der Verlagerung von Produktionsstätten in den 1990er Jahren kam preiswertes Geschirr auf den Markt. Auch änderte sich der Lebensstil der Bevölkerung. Beide Prozesse zwangen die lokale Produktion zur Veränderung: Weg vom feinen Kaffeeservice zum Haushaltsgeschirr, dass mit den preiswerten Produkten aus Kenia und Malaysia konkurrieren kann.
Als das größte Traditionsunternehmen Hutschenreuther Mitte der 1990er Jahre vom Unternehmen Winterling übernommen wird und jenes kurz darauf Insolvenz anmeldet, wird die eigentliche Wende besiegelt. Heute existiert Hutschenreuther nur noch als Marke – produziert wird regional nicht mehr.
Wie kam es zum Wegbrechen der Porzellanproduktion vor Ort?
Petra Werner, Hauptkuratorin des Porzellanikon, Selb
Mit der Wiedervereinigung verlieren die Grenzregionen der BRD Anfang der 1990er die Zuschüsse, die sie vormals aus genau diesem Grund erhalten hatten. Aus der Zeitung erfahren sie, dass die Förderung nun in den Osten ginge. Beispielsweise dockt man Produktionsstätten der Automobilindustrie an alte Autofabrikstandorte der DDR an. So werden keine neuen Fabrikstandorte in den Grenzregionen Bayerns und Hessens gebaut, die sich ebenfalls im Wandel befinden. Im früheren Grenzland ist von Förderung keine Spur: Anfang der 1990er werden Fabriken der ehemaligen DDR ‚abgewickelt’ – stark verkleinert oder ganz geschlossen. Die Menschen suchen vorrangig in den westdeutschen Grenzregionen nach Arbeitsstellen.
Bereits 1982 wird das Porzellanikon, Staatliches Museum für Porzellan in Hohenberg an der Eger, in einer stillgelegten Fabrik gegründet. Die Kunsthistorikerin Petra Werner kuratiert das Museum von Anfang an. Nach der Wende werden neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesucht. Auch ehemalige Beschäftigte aus der Keramikindustrie aus der ehemaligen DDR bewerben sich hier und sind bis heute im großen Team eine Bereicherung.
Wie war die Zusammenarbeit mit neuen Kollegen aus dem Osten?
Petra Werner, Hauptkuratorin des Porzellanikon, Selb
Und die Nachbarn aus Tschechien?
Petra Werner, Hauptkuratorin des Porzellanikon, Selb
Die Mauer ist gefallen – und nun? Was ändert sich kurz nach dem Mauerfall an der Grenze?
Gerhard Bock, ehem. Dienststellenleiter Polizei Selb
Zwischen dem Zollamt Schirnding Landstraße und dem tschechischen Pomezí nad Ohří liegen knapp 2 km Grenzgebiet. Vor der Öffnung der Grenze 1989 gibt es keinen Kontakt zwischen den tschechischen und den deutschen Beamten. Illegale Grenzübertritte oder größere Delikte müssen von bayerischer Seite über Prag gemeldet werden. Nach der Öffnung rücken die Beamten zusammen. Schließlich ziehen sie auch in ein gemeinsames Zollamt. Hier zu sehen ist der erste Besuch der Beamten aus Tschechien einen Tag nach Mauerfall.
Wie hat sich die Arbeit eines Zollbeamten nach dem Mauerfall geändert?
Wolfgang Brauner, ehem. Zollbeamter Schirnding
Wie war die Beziehung zu den Beamten in Tschechien?
Gerhard Bock, ehem. Dienststellenleiter Polizei Selb
In den 1990er Jahren sind die Grenzen zwischen den drei Ländern offen und der Arbeitsschwerpunkt der Beamten verlagert sich inhaltlich und räumlich. Die Warenein- und ausfuhr ist nun erlaubt und wird weniger kontrolliert. Durch den Wegfall der Kontrollen wird das Schleusen von Menschen oder Rauschgift allerdings leichter. Tschechische und deutsche Beamten führen seit Mitte der 1990er Jahre gemeinsame Kontrollen durch. Die Arbeit der Grenzpolizei und Zollbeamten geht nun weit über die Grenze hinaus: In den Grenzorten wird nach Drogenküchen, Umschlagplätzen und Sammelpunkten gefahndet.
In den 1980er Jahren bittet die DDR-Polizei, Revier Plauen, die bundesdeutsche Polizei in Selb sich über die Arbeit auszutauschen. Über Dienstpläne, dienstliche Abläufe, Ausstattung der Räumlichkeiten oder auch Statistiken wollen die Beamten aus Plauen etwas erfahren. Die Plauener sollen auch die Polizei in Selb besuchen – ein kurzer Austausch unter Kollegen, der sich nach der Wende auch anfangs nochmals wiederholte.
Welche Entwicklungen gab es in der Polizei nach 1989 ?
Gerhard Bock, ehem. Dienststellenleiter Polizei Selb
Wie schaut ein ehemaliger Zollbeamter auf die Grenzöffnungen nach 1989?
Wolfgang Brauner, ehem. Zollbeamter Schirnding
Den Fall der Mauer hätte Jens Weißflog eigentlich in Norwegen erleben sollen. Das erste Schneetraining der Saison ist ein Pflichttermin für den Olympiasieger, Weltmeister und DDR-Vorzeigeathleten, doch verletzungsbedingt heißt es Sofa statt Schanze. Und während die Teamkameraden versuchen, den norwegischen Nachrichtenkommentar über die Bilder des Mauerfalls zu enträtseln, ist Weißflog sofort klar: hier wird Geschichte geschrieben.
Was änderte sich mit der Wende für die DDR-Topathleten?
Jens Weißflog
deutscher Skispringer und Olympiasieger
deutscher Skispringer und Olympiasieger
In Ost und West gibt es das Fördersystem für Spitzensportler durch Armee oder Polizei. In der DDR sind Clubs wie die Armeesportvereinigung Vorwärts oder die Sportvereinigung Dynamo für die Kaderathleten zuständig. Jens Weißflog hingegen trainiert beim SC Traktor Oberwiesenthal und ist formal als Elektriker beschäftigt. Nach der Wende entlässt ihn seine Firma.
deutscher Skispringer und Olympiasieger
Wie kommt ein Olympiasieger über die Runden?
Jens Weißflog
ehemaliger deutscher Skispringer und Olympiasieger
deutscher Skispringer und Olympiasieger
Weißflog bleibt auch in Gesamtdeutschland ein Weltklassesportler. Weder die Wirren der Wendezeit noch die Umstellung von Parallel- auf V-Sprungtechnik können ihn stoppen. Zwei Mal gewinnt er 1994 Olympiagold, bevor er 1996 seine unglaubliche Karriere beendet.
deutscher Skispringer und Olympiasieger
1996 wird Weißflog mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Heute ist er als CDU-Mitglied in der Kommunalpolitik tätig.
deutscher Skispringer und Olympiasieger
EINHEITSBILDER ist eine Ausstellung der musealis GmbH – gefördert von der Bundesstiftung Aufarbeitung unter der Schirmherrschaft des Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, mit freundlicher Unterstützung der Mall of Berlin.
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